Wie oft verlieren?

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Ich habe meine Familie mehrfach verloren.
Geboren wurde ich im Januar 1970. Ich war das sechste Kind meiner leiblichen Mutter, nach mir folgten noch vier weitere Kinder. 
Ca. zwei Monate nach meiner Geburt kam ich zum ersten Mal in ein Kinderheim, zusammen mit meiner Schwester, welche 1³/4 Jahre älter ist als ich. 
Einige werden fragen, wo sind die anderen Geschwister abgeblieben. Unsere Brüder, welche älter waren, sind entweder zu den Eltern, Großeltern oder in andere Einrichtungen gekommen.
Diese Prozedur wiederholte sich bis zu meinem dritten Lebensjahr sehr oft. Getrennt von Mutter, Vater und Geschwistern. 
1973 kam ich letztmalig in ein Kinderheim, wieder zusammen mit meiner Schwester. Dort verbrachte ich zwei Jahre mit meiner Schwester.
Unfassbar!
Von einem Tag auf den anderen war sie nicht mehr da, einfach weg. 
Das war, so glaube ich 1975. Sie kam zu ihren „neuen Eltern“. 
Warum durfte ich nicht mit?! Die Frage hat mir bis heute KEINER beantworten können.
Auch ich bin zu „neuen Eltern“ gekommen. Ich verlebte dort bis zu meinem 13. Lebensjahr eine schöne Kindheit, jedoch vergaß ich nie meine Schwester. 
In einer warmen Augustnacht 1983 verstarb meine Adoptivmutter an einem Herzinfarkt. Sie war gerade 38 Jahre alt. Ich war anwesend, als sie starb. 
Mein Adoptivvater war mit dieser Situation völlig überfordert, er stand hilflos da. Ich verstand damals nicht, warum er nicht irgendetwas getan hatte. 
Meine geliebte Mutsch war tot, von einer Minute zur anderen. Mein Adoptivvater hatte aufgehört zu leben, seit dieser Augustnacht 1983.
Auch ihn hatte ich an diesem Tage verloren. Er hatte den Alkohol „gefunden“, er wurde sein bester Freund. 
Mich hat er einfach vergessen. Ich lebte mein Leben, bin groß und anständig geworden. Ich streite nicht ab, dabei etliche Tiefen erlebt zu haben.

Krebs-Krank

1998 heiratete ich. Endlich schien mein Leben „normal“ zu verlaufen. Dies änderte sich, als ich 2004 an Krebs erkrankte. 
Mein Mann kam mit der neu entstandenen Situation nicht klar, mit mir nicht mehr klar. Ich hatte mich verändert. 
Durch die Krankheit bin ich zu einer selbstbewussten Frau geworden, ein Problem für meinen Mann. Ich trennte mich von ihm. Mittlerweile haben wir ein freundschaftliches Verhältnis. Das wird auch so bleiben.
2007 verstarb mein Adoptivvater, er wurde tot in seiner Wohnung gefunden. Die Kriminalpolizei informierte mich von seinem Ableben.
Wieder ein Mensch aus meinem Leben verschwunden. 2001 begann ich mit der Suche nach meinen Wurzeln, im Jahr 2003 lernte ich daraufhin meinen leiblichen Vater kennen und somit auch seine jetzige Familie. 
Im Laufe von 4 Jahren entstand ein gutes Verhältnis, so dachte ich. Jedoch wurde ich 2008 eines Besseren belehrt. 
Ich habe vor kurzer Zeit meine Schwester kennen gelernt.
Im Vorfeld dieses Treffens stellten sich mir viele Fragen.
Wie sieht sie aus? 
Was macht sie? 
Erinnert sie sich an mich? 
Wie wird das erste Wiedersehen ablaufen? 
Versteht man sich? 
Sieht man sich wieder?
Ich könnte noch viele dieser Fragen benennen, aber das würde zu lange dauern. 
Wir waren vier und sechs Jahre alt, als wir uns zum letzten Mal sahen. 
Das war vor über 30 Jahren. Wir Beide wurden getrennt voneinander adoptiert, was ich bis heute nicht verstehen will und kann! 
Beide haben wir unseren Weg bis heute bestritten, was oft sehr schwierig war. Beide wussten wir, dass jemand fehlt und tief im Inneren vermissten wir uns gewaltig.

Erstes Treffen

Das erste Treffen zeigte bei mir Emotionen, welche ich vorher noch nie so erlebt habe. 
Es war eine Mischung aus Glück, Trauer, Freude, Unsicherheit.
Ein Wechselbad der Gefühle also. Ich erfuhr von dem Leben vor und während der Heimzeit. Was ich erfuhr, gefiel mir nicht. 
Mit dem Auftauchen meiner Geschwister, welche ich gefunden habe, stellten sich mir viele Fragen. Nur eine Person konnte diese beantworten. Mein Vater! Ich stellte ihm meine Fragen und er sagte, alles ist gelogen, meine Geschwister wären schlechter Umgang für mich. Ich wurde vor die Entscheidung gestellt Vater oder Schwester, der Vater verschwand aus meinem Leben. Ihm ist es egal was ich mache, wie es mir geht. War es ihm nicht schon gleich nach meiner Geburt egal?! Allein ihn habe ich zweimal verloren! Wenn man hier von verlieren sprechen kann.
Ich habe nicht gezählt, wie oft ich meine Familie verloren hab, möchte auch nicht zählen.

Autor: Chris W.

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